Bildlesekompetenz ist heute wichtiger als je zuvor. Vor allem Kinder und Jugendliche sollten hierzu geschult werden, was im Schulalltag viel zu wenig beachtet wird. Daher hat der Deutsche Fotorat, Arbeitsgruppe Visuelle Kompetenzen, einen Forderungskatalog formuliert, der sich an Pädagog:innen und Eltern sowie an Verantwortliche in der Politik richtet.
1. Bildkompetenz muss als eine zentrale Schlüsselqualifikation behandelt werden
Fotografie ist das visuelle Leitmedium unserer Zeit. Das Herstellen und Teilen von Bildern ist kinderleicht. KI-Tools erschaffen foto-realistische Bildwelten, die von kamerabasierten Bildern nicht zu unterscheiden sind. Kreativität, Kommunikation und Manipulation sind auf einem neuen Level angekommen.
Diese neue Phase der Bild-Kommunikation bedarf neuer Wege der Auseinandersetzung. Es reicht nicht mehr, die Bildkompetenz wie bisher als einen Neben-Aspekt der allgemeinen Medienkompetenz zu betrachten. Vielmehr stellt die Bildkompetenz eine zentrale Schlüsselqualifikation dar und muss in der Vermittlung als eine eigenständige, vielschichtige Kompetenz behandelt werden.
2. Die Visuellen Kompetenzen müssen umfassend und systematisch vermittelt werden
Kompetenter Umgang mit Bildern setzt voraus, Bilder lesen und reflektieren zu können. Bei der Vermittlung von visuellen Kompetenzen an Kinder und Jugendliche kann, je nach Art des Projekts und der Zielgruppe, auf folgende Aspekte fokussiert werden:
- Basics für eine bewusste Rezeption: u.a. Fake-Bilder und andere Arten der Manipulation erkennen und Fakten-Checks trainieren, die Präsentationsweisen von Bildern in sozialen Medien verstehen, usw.
- Befähigung zur Selbstreflexion und Perspektivenwechsel
- Wirkung der permanenten Konfrontation mit Bildern verstehen, dabei auch politische, kommerzielle und künstlerische Produktionen von Bildern unterscheiden lernen
- Historische und wissenschaftliche Vertiefung: Auseinandersetzung mit Bild-Ikonen, mit populären Fotos und Fotos, die in Vergessenheit geraten sind: Fotogeschichtlich relevantes Wissen kann dabei helfen, gegenwärtige Bildphänomene zu analysieren und einzuordnen
- Technisches und ästhetisches Basiswissen: Kamerafunktionen, KI-Apps, Metadaten; Bildsprachen in Einzelfotos, Serien, Sequenzen, Bewegtbildern
- Transparenz: Wer produziert Bilder, zu welchem Zweck und mit welchen Absichten?
- Rechtliche Aspekte: Information rund um mögliche Konsequenzen beim Teilen von Bildern
- Reflexion visueller Mehrdeutigkeiten: Verschiedene Bedeutungsschichten eines Bildes kennenlernen
- Affektive Ebene: Welche Wirkungen und Emotionen versucht das Bild abzurufen? Spielt der Wirklichkeitsbezug der Fotografie dabei eine Rolle?
- Produktion: Abkehr von Klischee-Motiven hin zu eigenen Bildwelten
Im Vermittlungsprozess gilt es, die bewährten Tools der Fotopädagogik einzubringen, neue zu entwickeln, und Kinder und Jugendliche mit ihrer kreativen Lust und ihrem Forschergeist aktiv einzubeziehen.
3. Die medialen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen müssen respektiert werden
Für Kinder und Jugendliche hat die Kommunikation mit Bildern einen hohen Stellenwert. Sie nutzen Fotografie auf eine selbstverständliche Art und Weise, das Medium Fotografie ist ein wichtiger Teil ihrer Lebenswelt und schärft ihren Blick für unterschiedliche Perspektiven.
Es darf daher nicht darum gehen, ihnen dieses Bedürfnis und die im Alltagshandeln erworbenen Kompetenzen abzusprechen – im Gegenteil: Es gilt, die medialen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zu respektieren und sie in ihren visuellen Kompetenzen umfangreicher zu qualifizieren.
4. Gatekeeping-Prozesse müssen transparent werden
Die Bereiche der Kuration und Vermittlung von Bildern in Museen erscheinen oft als „geheimnisvolle“ Arbeitsfelder von Insidern. Das gleiche trifft auf die Prozesse bei der Auswahl von Bildern in Redaktionen zu. Öffentlich verfügbare Informationsquellen, wie etwa Bildredaktionen funktionieren oder wie Ausstellungen entstehen, können zum Verständnis von Bildern und ihrer Wirkung beitragen. Hintergründe, Absichten und Präsentationsweisen bedürfen einerKommentierung. Auch das Verständnis um die Unterschiede zwischen künstlerischer und dokumentarischer Fotografie kann nicht vorausgesetzt werden.
Es ist erforderlich, Gatekeeping-Prozesse zu hinterfragen und die Abläufe und Absichten transparent zu machen – und zwar in einer für Kinder und Jugendliche verständlichen Art.
Zudem eröffnen sich hier für öffentlich geförderte Institutionen und private Medienanbieter*innen Chancen, gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein zu demonstrieren und sich zu profilieren, indem sie sich bei der Vermittlung visueller Kompetenzen einbringen und entsprechende zielgruppenspezifische Formate entwickeln.
5. KI-generierte Bilder müssen kenntlich gemacht werden
KI-generierte Bilder sind von kamerabasierten Bildern nicht mehr zu unterscheiden. Die Bildernutzer*innen, allen voran Kinder und Jugendliche, dürfen mit diesem Problem nicht allein gelassen werden.
Besonders relevant ist der Sachverhalt für die Vermittlung von Informationen in den Bereichen News, Reportage und Dokumentation, aber auch z.B. bei der (Selbst-)Inszenierung in den Sozialen Medien. Um das Problem von Fake-News und vorsätzlicher Manipulation auszuschließen, müssen ab sofort KI-generierte Bilder kenntlich gemacht werden. Das gilt auch für Fotos, die im erheblichen Maße digital verändert wurden.
6. Erkenntnisse aus der Bild-Wissenschaft und Foto-Praxis müssen zentral verfügbar sein
In Deutschland existieren zahlreiche Verbände, Hochschulen, Fachgruppen, Institute, Akteur*innen in der Medienpädagogik, die Wissen zur Bildkompetenz erarbeiten, Methoden entwickeln, Kurse durchführen. Zwischen wissenschaftlichen und praktischen Disziplinen besteht häufig eine Distanz. Eine nachhaltige Infrastruktur fehlt, die Ergebnisse werden allzu oft häppchenweise präsentiert.
Um den Nutzwert der Erkenntnisse zu optimieren, gilt es, den jeweils aktuellsten Stand zu Visuellen Kompetenzen und Fotopädagogik zentral zu erfassen und mit geeigneter Kommunikation öffentlich verfügbar zu machen. Disziplin-übergreifende Zusammenarbeit ist dabei unerlässlich. Wir fordern die Politik dazu auf, Verantwortung zu übernehmen. Es braucht flächendeckende Programme – zum Wohl aller Kinder und Jugendlichen.
7. Medienkompetenz-Vermittlung muss als eigenes Schulfach etabliert werden
Aus der alltäglichen Nutzung von Smartphones und Sozialen Medien ergeben sich für die Bildungsarbeit neue Chancen, aber auch Herausforderungen. Um einen kritischen und verantwortungsvollen Umgang mit KI-basierten Technologien zu vermitteln, müssen in der Medienpädagogik neue Methoden entwickelt und konsequent eingesetzt werden.
Entsprechende Angebote im außerschulischen kulturellen Bereich sind weiterhin wichtig, jedoch erreichen sie oftmals nur eine ohnehin privilegierte Bevölkerungsschicht. Um alle Kinder und Jugendlichen zu erreichen, ist es erforderlich, das Schulfach Medienkompetenz einzurichten und Fotografie und Visuelle Kompetenzen als zentrale Schlüsselqualifikationen zu vermitteln.